Wo einige den Einzelhandel als großen Verlierer der Digitalisierung ausloben, sehen andere Trends und ungeahnte Potenziale. Ayan Yuruk zum Beispiel. Der Wahlberliner erschafft mit seinem Start-up #SHOWROOMING eine neue Generation des Handels. Wie genau das aussieht und was in der Realität für Schwierigkeiten sorgt, verrät er uns im Interview.
Herr Yuruk, Sie wollen Retail wieder sexy machen. Wie gehen Sie das an?
Wir wollen vor allem eins: MACHEN. Wir haben genug geredet. Die Industrie weiß, dass sie sich revolutionieren muss — das ist angekommen, auch wenn etwas spät! Der Kunde ist da nämlich schon weiter und mittlerweile sogar verärgert und gelangweilt, wenn Marken den Wandel verschlafen. Und das kann schnell zum Problem werden. Wird der Kunde nämlich nur ein einziges Mal enttäuscht, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass er jemals wiederkommt, bei null.
Das ist harsch, aber Realität! Bei all den Alternativen da draußen, vergoldet keiner mehr die Zeit, jemandem eine zweite Chance zu verleihen! — So, don’t fuck up!
Große Umbrüche schüren Unsicherheit und oft die Flucht in Diskussion statt Tat. Das gilt für den Gesellschaftswandel, digitalen Wandel, Klimawandel, und auch den Retail-Wandel. Die Industrie muss endlich aus dieser Procrastination aufwachen. Ja, wir brauchen Vor-DENKER. Aber wir brauchen vor allem eins: Vor-MACHER.
Stop talking. Do it!
Mit diesem Mindset gehen wir die Arbeit mit unseren Kunden an: Wir arbeiten strategisch-kreativ, schnell, agil und inspirieren unsere Kunden mit unseren Konzepten zum MACHEN.
Wie sieht also künftig der perfekte Store aus?
Wir müssen den Begriff “Store” komplett neu denken, ja fast schon ignorieren. Die zukünftige physische Präsenz der Marke kann überall sein — als fixer Raum in einer Innenstadt, als Roadshow, oder als Pop-Up auf einem Festival. Die physische Markenpräsenz der Zukunft muss vor allem eins sein: empathisch. Wie fühlt sich der Kunde? Was braucht der Kunde von mir (der Marke)? Welchen Eindruck möchte ich hinterlassen? Was lerne ich vom Kunden?
Der perfekte Store richtet sich demnach an den Customer der Zukunft und dabei reicht keine Marken-Sympathie, es bedarf Marken-Empathie. Die Marke verkauft nicht zuerst, sondern begegnet, begeistert und überrascht vor allem!
Beim zukünftigen Store geht es also um viel mehr als nur die Frage, welche und wie viele Screens im Store empfehlenswert sind und wie die Kanäle aufgebrochen werden können, hin zu einem wirklichen Omni-Channel oder wie ich gerne sage “Life-Channel”-Ansatz.
Welche Rolle spielen digitale Anwendungen und das Personal dabei?
Gerade digitale Anwendungen sind essentiell, wir haben vor einigen Tagen die Top 5 Technologien für 2020 in unserem Blog vorgestellt und mussten leider wieder feststellen, dass viele traditionelle Retailer noch ganz am Anfang stecken oder gar glauben, sie können diesen Trend aussetzen.
Wake up, sag ich da nur! Data ist die Währung der Zukunft, die Online-Pure-Player sind dem schon Lichtjahre voraus. Denen wiederum fehlt das Wissen an anderer Stelle, gerade wenn sie stationäre Läden eröffnen wollen. Daher ist das Machtverhältnis noch relativ ausgewogen und wir werden in den kommenden Jahren erfahren, wer noch Teil unserer Retaillandschaft sein wird.
Die wichtigste USP stationär ist selbstverständlich das Personal, das ausgestattet mit smarter Technologie unschlagbar werden könnte — eine “Augmented Salesperson” sozusagen.
Was sind typische Berührungsängste oder Unsicherheiten bei Ihren Kunden?
Viele Marken folgen dem Glauben, dass sich das Einkaufsverhalten nur bei der neuen Generation ändert, nicht aber bei den Älteren. Daher tastet man sich bei neuen Storekonzepten nur vorsichtig voran und Änderungen erfolgen oft nur Schritt für Schritt. Die Zukunft des Retail lässt sich jedoch nicht durch einzelne Cherry-Picking-Konzepte revolutionieren und auch nicht im “Wait-and-See”- Modus: Die kaufkräftige Babyboomer Generation (also die heutigen 55-74 Jährigen) sind nach vielerlei Studien, z. B. von Deloitte, digitaler als ihr Ruf. 81 Prozent der Babyboomer besitzen z. B. ein Smartphone. Ein wichtiger Aspekt hierbei: Diese Generation sind die Eltern der Digital Natives, die das Einkaufsverhalten und Mediennutzungsverhalten ihrer Eltern beeinflussen.
Darin liegt aber auch ein Stück weit unsere Aufgabe: Aufklärung und Heranführen der Marken an die umfangreiche Transformation, die ansteht.
Was sind typische Fehler bzw. Fehlannahmen von Händlern bei der Gestaltung von Ladenflächen?
Mon dieu, wo soll ich da anfangen. Ich sag‘s mal so: das Zoning eines Stores hat sich grundlegend geändert, von weniger Lager- zu mehr Erlebnis- und Wechselflächen. Und auch einen zentralen Kassenbereich braucht kein Mensch mehr.
Die größte Fehlannahme jedoch ist die Fehleinschätzung der Kosten für neue Technologien. Wir erleben regelmäßig, wie positiv überrascht die Brands sind, z. B. über POS-Analytics-Preise.
Wo liegt der große Unterschied zwischen ehemaligen Online-Pure-Playern und klassischen Einzelhändlern, wenn es darum geht, neue Stores zu erschaffen?
Das Ziel ist immer Umsatz, egal für welchen Player. Der Weg und die Art und Weise, an das Ziel zu kommen, hat sich lediglich verändert. Ein Onliner setzt auf ganz andere KPIs, wie z. B. Opt-in, Data-Generierung, Interaction Time. Der Store wird nicht nur zum Verkaufen, sondern auch für Events, Testläufe und als Content Factory genutzt. Sie schaffen Spielraum, um neue Konzepte auszuprobieren und zu testen. Zudem sind die Prozesse und Abteilungen nicht so festgefahren wie bei traditionellen Einzelhändlern. Onliner denken den Store also viel agiler und ganzheitlicher.
Und ja, ein Store wird da auch mal aus dem Marketingbudget bezahlt und genau das ist das tolle daran, schließlich ist ein Store nicht nur ein Absatzkanal, sondern auch ein sehr effizientes Marketingtool. Sofern man es richtigmacht.
Sie sind gelernter Gestalter für visuelles Marketing und haben schon weltweit für große Marken Stores, Showrooms und Messestände entworfen. Wer ist bei #SHOWROOMING noch mit an Bord?
Mein Wunsch war es von Anfang an für #SHOWROOMING ein diverses Team aufzustellen, das Ladengestaltung nicht klassisch denkt. Wir verändern die Definition des klassischen Stores und dafür waren Köpfe aus unterschiedlichen Abteilungen nötig. Wir haben Experten aus den Bereichen Digital Marketing, Architektur, Set-Design, Retail-Strategy, IT, Creative und Entertainment. Da kommen schon mal sehr bunte und außerordentliche Konzepte zusammen, die aber immer ein Ziel bei #SHOWROOMING verfolgen: Kunden-Traffic im Store zu generieren!
Was war persönlich Ihr bestes Einkaufserlebnis im vergangenen Jahr?
Einkaufen gehen heißt für mich natürlich zugleich Marktanalyse. Da kommt es schon mal vor, dass ich Sachen ganz besonders unter die Lupe nehme und nur schwer zu beeindrucken bin. Dennoch schaffen das einige Marken trotzdem. Den WOW-Effekt hatte ich zuletzt bei Gentle Monsters in Singapur, deren Stores sind der reinste Wahnsinn. Ein begehbares Kunstwerk, in dem man quasi nebensächlich auch noch Brillen kaufen kann. Da hat jemand etwas gewagt und es zahlt sich aus! Boring und safe kann schließlich jeder!
Hierzulande muss ich in puncto Service SuitSupply sehr loben. Das ist ein spezialisierter Herrenausstatter und leistet darin eine hervorragende Arbeit. Der Schneider vor Ort übergibt dir dein neues Hemd innerhalb von 15 Minuten antailliert, gebügelt und anziehfertig. Das ist einfach unschlagbar. Das bekomme ich weder bei Zegna noch bei Boss.
Bei Markenwerten und -philosophie macht Aesop einen prima Job. Unabhängig vom Standort oder der Stimmung des Personals vermittelt jeder Store strikt die Werte der Marke und schafft damit ein kontinuierliches Wohlseinsgefühl beim Kunden und das sogar entlang der gesamten Customer Journey — über den Storebesuch hinaus, mit einem Probepack oder einem Brief, der hinterher versandt wird.
Und was war das schlechteste?
Ulala… Die Frage an einen Retailexperten zu stellen, ist ganz schön gewagt. Ich könnte Seiten füllen mit Negativbeispielen, den Stoff dafür liefert die Industrie täglich!
Hoch auf dieser Negativliste steht leider der neue “Future-Store” von Bonprix. Ein absolut unpersönlicher, mit Screens zugepflasterter und inspirationsloser Laden. Eine Reizüberflutung, bei der nichts außer Verwirrung entsteht. Aber zumindest probieren sie Sachen aus und lernen hoffentlich ziemlich bald dazu. Der einzige Store, der den Zustand toppen konnte, war damals Amazon mit seinem Weihnachts-Pop-Up Store am Kudamm, der eher der Höhle des Grinch ähnelte als einem “Home of Christmas”.
Der Kunde ist mittlerweile überfordert von dem ganzen Zirkus! Wo bleibt die Inspiration?
Über Ayan Yuruk
Als technisch versierter Retail Experte hat Ayan Yuruk zahlreiche Konzepte für die neue Generation des stationären Einzelhandels entwickelt und Start-Ups sowie etablierte Marken wie Ermenegildo Zegna, Cartier, Visa und Villeroy & Boch mit seinen Visionen bereichert.
Mit seinem Experiential Retail Studio #SHOWROOMING hat es sich der Vordenker und Keynote Speaker zum Ziel gesetzt, den Point of Sale in eine Brand-Stage zu verwandeln, der die Online- und Offlinewelt mit Hilfe von innovativer Technologie nahtlos verschmelzen lässt und den Nutzen des stationären Stores neu definiert. Die Kundenbindung schafft er über die Produkt- und Brandebene hinaus durch das Erlebnis und die Inspiration.