Andreas Haderlein, Leiter des Projektbüros cima.digital und Innovationsberater, gibt im Interview praxisnahe Einblicke in die Welt der lokalen Online-Marktplätze.
Einige Experten und Studien urteilten in der Vergangenheit, lokale Online-Marktplätze seien gescheitert. Was sagen Sie dazu?
Ich muss bei dieser Frage leider aufpassen, dass ich nicht allzu stark polemisiere. Denn Polemik, bisweilen sogar Spott muss der eine oder andere Projektmanager eines lokalen Online-Marktplatzes zu Genüge ertragen. Ein mitleidiges Lächeln kommt insbesondere von vermeintlichen E-Commerce-Experten, Armchair-Professoren oder Tech-Journalisten, für die auf Amazon Amen folgt. Aber jeder, der nur einigermaßen an der Umsetzung von Online-Sichtbarkeitsmodellen im städtischen oder regionalen Gefüge von Gewerbetreibenden beteiligt ist, weiß sehr wohl, wie elementar wichtig kooperativ angelegte digitale Vertriebs- und Logistikinfrastrukturen für Standorte sind. Was die sog. Studien anbelangt: Ich kenne alle öffentlich zugänglichen Studien. Die meisten sind Bachelor- oder Master-Abschlussarbeiten. Die eine oder andere hat es zur medialen Kettenreaktion geführt. So ist der publizistische Markt eben. Auch Beratungsfirmen profilieren sich hin und wieder mit diesem Thema und hinterlassen als Schlussfolgerung Plattitüden wie „Selbstläufer sind lokale Online-Marktplätze nicht.“ Als hätte das jemals ein involvierter Akteur bezweifelt!
Klar ist aber auch: Es hat noch keine Studie den Beweis erbracht, lokale Online-Marktplätze seien für die Katz. Dummerweise liegt den meisten nämlich ein absurdes, in Teilen von Marktunkenntnis strotzendes Forschungsdesign zugrunde. Da werden Äpfel (Online-Schaufenster) mit Birnen (lokale Online-Marktplätze mit Shopinfrastruktur, sog. Multi-Vendor Online-Shops) verglichen. Oder – noch schlimmer – Händler ohne Produktdaten befragt, wie viel Umsatz sie über den lokalen Online-Marktplatz machen. Mein Rat für Skeptiker an dieser Stelle: Fragen Sie alle Marktplatzhändler mit mind. 250 Artikeln und konsistenten Produktdaten auf suchmaschinenoptimierten lokalen Online-Marktplätzen. Sie werden erstaunt sein, was geht.
Kunden wollen bequem einkaufen und ihre Bestellungen möglichst schnell erhalten. Können lokale Marktplätze das leisten?
Sie sind sogar schneller, wenn vor Ort ein entsprechender Logistiker angebunden ist. Weiß zwar keiner mehr, aber es gehört auch zur Geschichte des Local Commerce. Das nationale Pilotprojekt „Online City Wuppertal“, das ich 2013 bis 2016 begleitet habe, hatte anno dazumal bereits die taggleiche Lieferung im Checkout des lokalen Marktplatzes integriert. Und noch vor der Einführung des Services durch Amazon. Und sie ist dort noch immer ein wichtiger Service des stationären Handels, der sich auf der Plattform bewegtA auch wenn der Logistiker nicht mehr Cocktail-Taxi, sondern DHL heißt.
Viel wichtiger ist mir hier allerdings zu betonen, dass die Lieferung am selben Tag, bei der ja auch der Kurier die Ware beim Händler abholt, ein wichtiges Element ist, um E-Commerce-Prozesse in den Tagesablauf des originär stationären Handels einzuweben. Als Change Manger in diesem Kontaxt müssen Sie nach Möglichkeit zu vermeiden versuchen, dass die adressierte Klientel aus dem Handel vor Ort, E-Commerce wie eine Zwangsjacke übergestülpt bekommt. Die Ware wird nämlich, wenn nicht gerade Bruchglas und dergleichen, lokal oder regionale in Tüten versendet. Der Händler packt also für lokale Kunden keine Päckchen nach Feierabend und schiebt sie dann zur Post. Dass das wie auch mitunter schon im Einsatz stehende E-Lastenbikes nicht nur umweltfreundlicher, sondern auch zeitsparender ist, liegt auf der Hand. In Regensburg, wo ich unlängst auch den Launch eines lokalen Online-Marktplatzes mitbegleiten durfte, holt der lokale Kurier sogar die nationalen Bestellungen ab.
Download: Checkliste Digitalisierung
Welche Modelle gibt es für Online-Marktplätze?
Wenn man mal nicht auf die vielen hemdsärmelig aus dem Boden gestampften oder mit Online-Shop-Baukasten zurechtgezimmerten lokalen Online-Marktplätze schaut – und alleine die Bundesinitiative Initiative WIRvsVIRUS hat zahlreiche davon auf den Markt der lokalen Online-Marktplätze geschwemmt –, dann gibt es in Deutschland drei bis vier relevante Infrastrukturgeber für lokale Online-Marktplätze. Sie unterscheiden sich im Frontend nicht wesentlich – was will man hier auch anders machen als der Benchmark!
Der Unterschied liegt aber eben unter der Haube und was das zugrundeliegende Geschäftsmodell oder die Tiefenintegration bestimmter Services anbelangt. atalanda etwa funktioniert als White-Label nur dort, wo Städte oder Regionen auch einen Kümmerer am Start haben, der den lokalen Online-Marktplatz managt und moderiert. Lozuka hatte von vornherein ein am Franchise orientiertes Technologie-Mietmodell, das eine risikobereite Betreibergesellschaft nötig macht. Locamo wiederum setzte immer darauf, als nationale Marke aufzutreten (bis man aber auch irgendwann erkannte, dass Städte und Regionen im Header nicht Locamo, sondern bspw. „Welfenmarkt“ stehen haben wollen). Und der in Augsburg groß gewordene Food-Logistiker Boxbote wiederum steigt wahrscheinlich im nächsten Jahr als relevanter Local-Commerce-Infrastrukturgeber in den Marktplätze-Markt ein. Dessen Pfund ist seine fundierte Kenntnis über City-Logistik-Prozesse und die Lieferung von Lebensmitteln.
atalanda – White-Label für Ihren Online-Shop
Das flexibelste White-Label-Modell von allen Anbietern ist derzeit sicherlich atalanda. Das Unternehmen hat früh erkannt, dass Gastronomen, Dienstleister und das Handwerk spezifische Darstellungs- und Vertriebsmöglichkeiten auf lokalen Online-Marktplätzen haben müssen. Man hat auch sehr früh dafür gesorgt, dass Produktdaten für lokale Absatzmittler, von denen – mit Verlaub – viele noch in der digitalen Steinzeit agieren, vor allem auch über Kooperationen mit Verbundgruppen, Großhändlern oder Herstellerdatenbanken zur Verfügung gestellt werden. Mit über 25 unterschiedlichen Shop- und Warenwirtschaftssystemen, die per Schnittstelle am Marktplatz hängen, zeigt sich sicherlich auch bei diesem Thema, dass atalanda nicht erst seit der Corona-Pandemie als Infrastrukturgeber gefragt ist. Mit integriertem Stadtgutscheinsystem und Großkunden wie NUSSBAUM Medien (KaufinBW) oder Luxemburg (letzshop), die ebenfalls atalanda als White-Label-Technologie nutzen, hat man sicherlich auch den einen anderen Euro mehr übrig für Ausbau und Stabilisierung des Systems.
Was die Customer Journey auf lokalen Marktplätzen anbelangt, ist sicher der größte Minuspunkt, dass Kunden nicht per Rechnung bezahlen können [lacht!]. Frühe Anbieter auf dem Markt sind sogar anfangs nur mit Door-Deal-Bezahlfunktion an den Start gegangen, waren im engeren Sinne also noch nicht einmal E-Commerce, denn der Kaufabschluss fand erst bei Übergabe der Ware statt. Ansonsten funktioniert der Checkout bei den meisten seriösen lokalen/regionalen Online-Marktplätzen wie bei allen anderen guten Online-Shops auch.
Allerdings ist die Anbindung der regionalen Logistik schon ein local-commerce-spezifisches Ding. Wir haben es hier ja mit automatisierten Prozessen zu tun. Eine händlerübergreifende Bestellung eines lokalen Kunden kann da schon zur digitalen Herausforderung in der effizienten Konsolidierung der Ware werden. Denn nicht nur müssen unterschiedliche Schließzeiten einzelner Händler beachtet werden, auch bei den Lieferkosten muss ja ein gemeinsamer Nenner gefunden werden.
Worin liegen die Vorteile für kleine und mittelständische Händler? Wann lohnt sich ein lokaler Online-Marktplatz?
RoPo-Effekte (Research online. Purchase offline) sind entscheidende Erfolgsindikatoren. Die Sichtbarkeit im organischen Google-Ergebnisindex bei lokal konnotieren Suchanfragen wird entscheidend verbessert. Neben Handel können auch Dienstleister, Gastronomie und Hotellerie mit spezifischen Servicefunktionen eingebunden werden (Mittagsmenüs, Terminvereinbarung, Eventkommunikation etc.) und Reichweite steigern helfen. Und ganz entscheidend: Die Hoheit über die digitale Infrastruktur liegt zumindest stärker im Hoheitsbereich der lokalen Akteure als es bei einem Vertreter der Gafa-Plattform-Ökonomie der Fall wäre, z. B. im Rahmen der damaligen Initiative eBay City.
Wenn es hingegen der eine oder andere Händler im Zuge des lokalen Change Managements schafft, sich mit entsprechendem Know-how und strategischem Weitblick auch auf eBay oder Amazon zu bewegen, kann ich das nur begrüßen. Das sind einzelbetriebliche Maßnahmen, deren Sinnhaftigkeit sich aus Wissen speist. Die Teilnahme an lokalen Online-Marktplätzen ist zuvorderst über den Kooperationswillen getriggert.
Worin liegen die größten Herausforderungen bei der Umsetzung solcher Marktplätze? Und was sind oftmals Einstieghürden für Händler?
Die Einstiegshürden sind klar: Das Nichtvorhandensein von Produktdaten, dem Gold des Kaufmanns/der Kauffrau im 21. Jahrhundert. Wir begleiten unsere Prozesse natürlich intensivst mit Schulungen und helfen im Bilateralen auch einzelnen Händlern bei der Lösung spezifischer Probleme entlang von Digitalisierungsprozessen. Allgemein möchte ich aber Folgendes sagen. Jeder Händler muss heute in der Lage sein, unternehmerische Entscheidungen zu treffen, die nach dem Prinzip: „Investieren, priorisieren und delegieren“ ablaufen.
Ist er Mitglied in der Verbundgruppe ANWR, kann er über Schuhe.de Produktdaten beziehen (Delegieren!). Außerdem den sortimentsspezifischen und SEO-mäßig gut ausgesteuerten Online-Marktplatz bespielen, ohne selbst in die Online-Shop-Umsetzung zu gehen. Das kostet natürlich Geld (Investieren!). Erkennt er, dass er relevant Reichweite über seine Social-Media-Kanäle aufbauen kann und eine hohe Konversionsrate mit Instagram-Posts erreicht, sollte er sich hier bspw. mit einem Instagram Business-Account professionalisieren (Priorisieren!).
Erkennt er, dass er besser jetzt als morgen mit der Erstellung seiner eigenen Produktdaten anfangen sollte (Priorisieren!), dann ggf. mal Studis fragen, ob sie diese Arbeit für den Betrag X (Investieren!) erledigen können (Delegieren!), damit der Inhaber sich intensiver um den nächsten Newsletter kümmern kann (Priorisieren!). Ich könnte diese Geschichte noch ewig weitererzählen. Es ist immer ein Dreiklang der Direktive, denen allen eines zugrunde liegt: Veränderungs- und Weiterbildungsbereitschaft.
Welche flankierenden Maßnahmen sind nötig, um lokale Online-Marktplätze zum Erfolg zu führen?
Wir haben keinen Mangel an Technologie, um die „digitale Aufenthaltsqualität“ von Standorten zu erhöhen. Damit lässt sich lokale Kaufkraft über Online-Sichtbarkeitsmodelle, transaktionsbasierte Online-Marktplätze oder digitale Stadtgutscheinsystem binden. Wir haben jedoch einen entscheidenden Mangel an Veränderungsmanager*innen in den Städten, die insbesondere den inhabergeführten Handel auf seinem Weg hin zu mehr Digitalfitness begleiten.
Um also auf diesem Nährboden einer digitalen Infrastruktur zu wachsen, braucht der lokale inhabergeführte Handel gegenstandsorientierte Schulungskonzepte und kompetent moderierte Veränderungsprozesse. Hilfe zur Selbsthilfe und „Learning by Doing“ sind das Gebot der Stunde und nicht die „Rettung“ einer Anspruchsgruppe, die sich aus selbstständigen Unternehmern rekrutiert. Wir brauchen also mehr Ausbildung auf der Ebene des Managements und der Moderation von kooperativen digitalen City-Initiativen. Ich versuche mein Wissen in Form von Büchern, Seminaren oder Vorträgen weiterzugeben. Das ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir brauchen viel mehr Hochschulen, die sich dem „Kümmern 2.0“ etwa im Rahmen von Ausbildungslehrgängen im Bereich Wirtschaftsförderung oder Stadtmarketing auseinandersetzen. In der beruflichen Weiterbildung im Umfeld des Citymanagements und Stadtmarketings ist auch noch Luft nach oben.
Letztlich also brauchen wir ein konsensfähiges Curriculum, um künftig regionale Wertschöpfung mit qualifiziertem Personal auf ein digitales Fundament setzen zu können. Was wir nicht brauchen: Die x-te Studie zu lokalen Online-Marktplätzen, geschrieben von Nicht-Praktikern.
Download: Whitepaper Unified Commerce
Über Andreas Haderlein
Andreas Haderlein war Leiter des Projektbüros cima.digital mit Sitz in Frankfurt am Main. Der Wirtschaftspublizist und Innovationsberater begleitete u. a. das Pilotprojekt „Online City Wuppertal“ (2013–2016) als Impulsgeber und Berater. Aktuell ist er mit seinem Team u. a. für die Umsetzung eines regionalen Online-Marktplatzes in der mittelfränkischen Region Altmühlfranken verantwortlich. Von 2002 bis 2011 arbeitete er für die Zukunftsinstitut GmbH, wo er u. a. die Weiterbildungseinrichtung Zukunftsakademie leitete und als Trend- und Zukunftsforscher zahlreiche Studien veröffentlichte.
Bücher von Andreas Haderlein:
- Local Commerce: Wie Städte und Innenstadthandel die digitale Transformation meistern. Frankfurt am Main 2018, https://cimadigital.de/publikationen/
- Die digitale Zukunft des stationären Handels: Auf allen Kanälen zum Kunden. München 2012
LinkedIn: linkedin.com/in/andreas-haderlein/
Über die cima.digital
Das Projektbüro cima.digital der CIMA Beratung + Management GmbH richtet seinen Fokus auf kooperative Online-Strategien für Städte, Regionen und Handel. Dabei stehen sowohl technisch-konzeptionelle bzw. infrastrukturelle Fragestellungen wie auch Belange des Veränderungsmanagements und der Qualifizierung von Akteuren aus Kommunen, Stadtmarketing- bzw. Citymanagement-Organisationen, Gewerbe und Wirtschaftsförderungen im Vordergrund.
Darüber hinaus versteht sich cima.digital als „Moderator des Wandels“ im Rahmen von Beteiligungsprozessen der Stadtgesellschaft oder Ideenschmieden für Kunden, Bürger und nicht gewerblich orientierte Institutionen.